Es gibt sicher berühmtere, künstlerisch wertvollere Darstellungen des Gekreuzigten. Dennoch ist das Kruzifix in unserer Kirche eine große Kostbarkeit. Ursprünglich diente es wahrscheinlich außen an der Kirche als Friedhofskreuz. Anfang der siebziger Jahre wurde es restauriert und hat nun innen an der rechten Seitenwand zwischen den beiden alten Fresken mit Darstellungen aus der Passion Jesu seinen Platz. Auch wenn es in der Kirche nicht im Mittelpunkt steht, zieht dieses Kreuz doch unwillkürlich den Blick des Kirchenbesuchers auf sich. Eindrucksvoll stellt es ihm die Mitte des christlichen Glaubens vor Augen: Es predigt den gekreuzigten Christus, der für das Heil der Menschen starb.
Als Martin Luther am 31.Oktober 1517 seine 95 Thesen veröffentlichte, ging es ihm um diese zentrale Botschaft, die er als biblische Wahrheit erkannt hatte. In der 62.These schreibt er: „Der rechte wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ An keiner Stelle wird diese Gnade für uns deutlicher sichtbar als im Bild des Gekreuzigten. Deshalb erinnert schon der Apostel Paulus die Gemeinden in Kleinasien daran, dass er ihnen Jesus Christus als den Gekreuzigten „vor die Augen gemalt“ habe (Galater 3,1). Was der Apostel in seiner Verkündigung tat, das versuchen Künstler zu allen Zeiten mit ihrer bildlichen Darstellung. Oft können solche künstlerischen Zeugnisse besser als Predigten etwas von der Bedeutung des Kreuzesgeschehens ausdrücken.
Die ersten Christen wagten es freilich noch nicht, den am Kreuz sterbenden Jesus bildlich darzustellen. Es dauerte Jahrhunderte, bis es zu den ersten Kreuzigungsdarstellungen kam. Lange Zeit stellte man Christus auch nicht als einen von Schmerzen gezeichneten Menschen dar, sondern als den Sieger über Leiden und Tod, manchmal sogar mit einer Königskrone auf dem Haupt.
Unser Kunreuther Kruzifix weist die Darstellungsmerkmale einer späteren Epoche auf. Sicher ist es nicht zu datieren. Vielleicht stammt es aus spätgotischer Zeit (Ende 15. Jahrh.). Christus hat die Züge eines wahrhaft leidenden Menschen. Sein Haupt trägt die Dornenkrone. Das Haar fällt über die Schultern herab. Die Augen sind geschlossen. Der Kopf ist etwas geneigt, der Mund im Schmerz leicht geöffnet. Bei den am Querbalken angenagelten Händen sind die Finger nach innen verkrallt. Die Füße, die aufeinander liegen, sind mit einem einzigen Nagel durchbohrt. Ein weißes Lendentuch ist um die Hüften gebunden. Tritt man ganz nahe unter das Kreuz, kann man dem Gekreuzigten ins Antlitz sehen, ohne vom Licht der Fenster geblendet zu werden. Man kann das Gesicht betrachten, die ausgezehrten Glieder, die Blutspuren am Körper. Über ihm ist auf weißer Tafel die Inschrift INRI angebracht: Jesus von Nazareth König der Juden.
Geht man wieder zurück in die Mitte der Kirche oder nimmt man auf der Empore Platz, verändert sich das Bild etwas: Die Feinheiten der Darstellung, die Zeichen des Leidens und der Schmerzen, treten zurück. Stattdessen verstärkt sich ein anderer Eindruck: Christus breitet hier seine Arme über der Gemeinde aus. Er ist ihr gerade durch den Platz, den er direkt über den Bänken einnimmt, ganz nahe. Ausgebreitete Arme sind immer ein Zeichen der Liebe. Das heißt: Wir alle, die wir hierher kommen, sind in seine Liebe eingeschlossen. Wer die Gemeinschaft mit Jesus Christus sucht, darf mit seinen offenen Armen rechnen. Er darf wissen, dass Christus Leiden und Tod auch für ihn auf sich genommen – und überwunden hat. Das Kreuz ist nicht einfach nur ein Bild der Marter und des Todes. Es ist ein Bild der Liebe und des Lebens. Deshalb sagt Martin Luther:
„Je tiefer und fester du dies Bild in dich hineinbildest und ansiehst, desto mehr fällt das Todesbild ab. So ist Christus des Lebens und der Gnade Bild gegen des Todes und der Sünde Bild. Darum sieh Christus an, der um deinetwillen von Gott verlassen gewesen (ist) als einer, der verdammt sei ewiglich für dich, da er sprach am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Siehe, in dem Bilde ist überwunden deine Hölle und deine ungewisse Zukunft gewiß gemacht. Laß dir das nur nicht aus den Augen nehmen...“
Dr. W. Zwanzger